Montag, 16. Mai 2022

Wann Schafe scheren - der Phänologische Schafkalender

Jahrelang... jedes Jahr wieder... habe ich im Internet Bilder gesehen von einer Skuddenzüchterin, die ihre Schafe mit der Handschere schert. Und jedes Mal dachte ich: Das ist doch vieeel zu früh! Das habe ich nicht nur gedacht sondern auch geschrieben und jedes Mal hat sie mir versichert, die ersten wären da schon so weit gewesen.

Zu früh scheren ist eine Qual! Wolle wächst nicht gleichmäßig sondern hat einen Jahreszyklus. Bei Wildschafen und Haarschafen beinhaltet der einen richtigen Fellwechsel. Bei modernen Rassen (modern in diesem Sinne: Rassen, die so ab dem Mittelalter entstanden sind) und bei alten, primitiven Rassen sieht man mehr oder weniger von diesem Fellwechsel. IN dem Wechsel bzw. ganz kurz davor schert es sich bei manchen Rassen wie durch eine Latexmatratze! Da ist viel Lanolin, Wollschweiß und einzelne Wollhaare, die sich gelöst haben und die Schicht nochmal fester machen.

Über dieser Schicht scheren - also ganz außerhalb des Zyklus - das geht. Machen ja viele, wenn sie die Schafe einstallen. Nur wenn das einmal begonnen hat, dann sollte man MIT der Natur arbeiten. Nicht zu früh!

Mit Claudia (der Skuddenzüchterin, die immer viel früher schert als ich), bin ich darauf gekommen, dass bei ihr alles früher ist. Also alles in der Natur. Alle Zeigerpflanzen, die im phänologischen Kalender die Jahreszeiten anzeigen. Die Zeigerpflanze für Schafschur ist demnach der Holunder! Ihre Schafe und meine sind schurbereit, wenn der Holunder blüht. Vier Wochen später bei mir (Ostsachsen) als bei ihr (Bochumer Ecke). Bei mir blüht da gerade mal der Flieder!


frisch geschoren Skudden unter blühendem Holunder (Bild Claudia Schulte)



Im phänologischen Kalender zeigt die Holunderblüte den Frühsommer an. (Flieder den Vollfrühling).

Viele Leute denken, Schafe würden im Frühjahr geschoren. (Und Frühjahr wäre, sobald die Sonne das erste mal rausguckt). Das stimmt nicht. 

Wir haben in den meisten Jahren in Deutschland eine meteorologische Singularität im Juni. Die Schafskälte. Die so heißt, weil da traditionell die Schafe geschoren wurden und dann in den kühlen Tagen gefroren haben. 

Ich habe für einen Zeitschriftenartikel mal die wissenschaftliche Literatur zum Thema durchsucht. Da gibt es einiges! Neuer und älter. Überwiegend aus Australien und Neuseeland, wo deutlich mehr wissenschaftliches Interesse an Schafen und Wolle besteht. (Bzw. wo mehr Geld dafür ausgegeben wird.) Die Messwerte waren in den verschiedenen Artikeln nicht gleich aber WANN im Jahr die höchsten und niedrigsten Werte erreicht wurden, war sehr ähnlich. 

Da Down Under ja auch die Jahreszeiten Kopf stehen und im September Frühling ist, habe ich mir das übersetzt in Frühjahrestagundnachtgleiche, Sommersonnenwende, usw. Daraus ist eine Graphik entstanden mit Jahreszeit auf der x-Achse und den Werten auf der y-Achse. Die unterschiedlichen Werte habe ich so normalisiert, dass ich Höchstwerte und niedrigste Werte jahreszeitlich einsortiert habe. Die y-Achse hat also keine Einheit und... öhm... ist deshalb ein bisschen "Pfusch"... aber anschaulich. Finde ich...

Wollwechsel im Jahreslauf

 

Dargestellt habe ich den Durchmesser der Wolle und das Längenwachstum. Die Schafe in den Publikationen waren Merinos, Romneys und Wiltshire Horn. Mit Wiltshire Horn (die ihre Wolle selber abwerfen) gab es nur eine Publikation.

Bei allen wird der Faserdurchmesser ab einem Zeitpunkt zwischen Frühjahrestagundnachtgleiche und Sommersonnenwende dünner. (Die Schwankung im  Faserdurchmesser ist laut einer Publikation 70-75% - beim Merino!) Am dünnsten ist er dann zur Herbsttagundnachtgleiche. Ab da muss das Fell gewechselt sein und es wird Zeit, sich einen Winterpelz zuzulegen. Faserdurchmesser und vor allem das Längenwachstum legen jetzt richtig los!

Es ist allerdings nicht nur die Tageslänge, die den Fellwechsel beeinflusst. Direkt verantwortlich ist das Hormon Prolaktin und das wird AUCH von der Tageslänge beeinflusst. Aber zum Beispiel auch durch eine Trächtigkeit. Auch Futter oder eine Änderung im Futter kann eine Rolle spielen (Weideaustrieb) und eben auch "Kleinklima" wie bei den Zeigerpflanzen.

Was das Scheren zur falschen Zeit so schwer macht, ist vor allem die "Abschwitzkante". Die Bildung von viel Lanolin und Wollschweiß wird zu der Zeit des natürlichen Fellwechsels ordentlich angekurbelt. Man kann über dieser Kante scheren oder darunter. Aber nicht darin. Sonst sieht das so aus:

zu früher Scherversuch (ich sag nicht, wer es war...)

Hinten (links im Bild) war die Wolle schon abgewachsen. Vorne keine Chance. Da konnte man nur über der Kante etwas angleichen... (Ich war das nicht! Ich hätte gar nicht erst angefangen! Aber ich hatte die Kamera parat.) So krass ist das nur bei primitiveren Rassen (hier Shetland). Bei solchen mit weniger Fellwechsel kommt man da mit viel Fluchen noch durch.

Schön abgewachsene Wolle mit einer Kante, unter der es sich schneidet wie mit heißem Messer durch Butter, sieht so aus:


Shetlandmix, abgewachsene Wolle

Oder so (Bild von Whiteadder Rare and Native Breeds, @whiteadderwoodlands auf Instagram)

Shetlandschaf, abgewachsene Wolle (Bild Victoria Hedges)

 

Hier noch ein Beispiel mit Skudde. Skudden haben etwas weniger vom Fellwechsel als Shetlandschafe aber ebenfalls eine Abschwitzkante, IN der man nicht freiwillig scheren will aber UNTER der es einfach nur Spaß macht:

Handschur Skudde (an der Schere Saskia Dittgen)

Noch was zum "Abschwitzen": Das kommt vom Wollschweiß. Wollschweiß sind Salze und alkoholische Lanolinbestandteile. Also schon so salzige Ausscheidungen aus der Haut wie unser Schweiß aber Schafe schwitzen nicht so wie wir oder wie Pferde. Also nicht zur Abkühlung bei Hitze oder körperlicher Anstrengung. Die kann man in die Sauna stecken oder Sport machen lassen: Kommt kein extra Schweiß. Der Anteil nimmt aber zur Zeit des (ehemaligen) Fellwechsels zu. Das ist auch öfters mal ein Missverständnis: "Die Schafe müssen abgeschwitzt haben!" wird zu: "Die Schafe müssen geschwitzt haben!" und DAS wird dann so verstanden, dass es zur Schur reicht, wenn den Schafen einmal ordentlich warm geworden ist. Das bedeutet das nicht!

Es macht aber schon einen Unterschied, wie warm es ist und in den Tagen vor der Schur war! Je nach Rasse gibt es viel Lanolin oder wenig, öliges oder festes. Viel festes Lanolin wird geschmeidiger, wenn es warm ist und es lässt sich angenehmer scheren. Das hat aber mit "Abschwitzen" nichts zu tun. Das wird von der Tageslänge gesteuert, von Hormonen und eben auch von der Temperatur. Über eine gewisse Zeit. So wie auch der Holunder "Daten sammelt" und dann blüht, wenn er soweit ist.


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